Reisebericht Appalachian Trail, mit vielen Reisetipps

Der Appalachian Trail

5'000'000 Schritte von Georgia nach Maine

Appalachian Trail Karte

© Text und Fotos: Andreas Zimmermann

Die Distanzangabe auf der Karte richtet sich nach dem im Jahr 2000 aktuellen Appalachian Trail Data Book, der wichtigsten Orientierungshilfe auf dem Trail. Von Jahr zu Jahr kann sich die Routenführung ein wenig ändern, so dass die Distanzangaben auf älteren Informationstafeln vom Jetzt-Zustand abweichen können.
Die offizielle Streckenlänge für 2021 beträgt 2193.1 Meilen.

Als wahrscheinlich erstes Schweizer-Paar haben Andreas Zimmermann und Ursula Wanner den gesamten Appalachian-Trail zu Fuss zurückgelegt. Die Länge des Trails beträgt 2167.1 Meilen, Das entspricht 3487.6 Kilometern. Für diese Strecke benötigten sie 178 Tage, was einem Tagesdurchschnitt von 19.6 Kilometern entspricht. Die effektive Tagesleistung war jedoch einiges höher, da im Durchschnitt die freien Tage mit eingerechnet wurden.

Lesetipp:

Zur Vorbereitung empfehle ich dieses Buch: Appalachian Trail Thru-Hike Planner

... und hier noch zwei Erlebnisberichte zum Einstimmen:

 Ein Blinder auf dem Appalachian Trail: Dunkle Nacht am hellen Tag (nur noch gebraucht erhältlich)
... und etwas satirisches von Bill Bryson: Picknick mit Bären

Andreas Zimmermann
Andreas Zimmermann 
Am Ziel: Mount Katahdin
Am Ziel nach 178 Tagen 
Ursula Wanner
Ursula Wanner 

Der Trail beginnt auf dem Springer Mountain in Georgia und endet auf dem Mount Katahdin in Maine. Jedes Jahr starten ca. 2500 Hiker, aber nur 10% schaffen die gesamte Strecke.

Vorgeschichte

Es ist schon eine verrückte Idee, 3500 Kilometer zu Fuss zurückzulegen, bei Wind und Wetter, mit 25 Kilogramm am Rücken. Wir erlebten den wohl nässesten und kältesten Sommer aller Zeiten. Nasse Füsse und ein immer knurrender Magen waren unsere treuen Begleiter. Die physische und psychische Belastung, vor allem durch die Witterungsbedingungen, machten den Weg oft zur Tortur. Aber das Verrückteste an allem ist: Wir würden es wieder tun!

Diese Geschichte nimmt aber einige Jahre früher ihren Anfang. Wir schreiben das Jahr 1988. Ich war mit meinem Kanu unterwegs, ganz alleine, 1500 Kilometer, von Dawson City in Kanada nach Tanana in Alaska. Es war der 7. September und die ersten Herbststürme zogen über den Yukon. Der Wind türmte die Wellen gefährlich hoch auf und die Gischt spritzte mir ins Gesicht. Zwei Mal konnte ich nur mit Not ein Kentern meines Kanus vermeiden und ich hatte das Gefühl, um mein Leben zu paddeln. Am späteren Nachmittag entdeckte ich ein verlassenes Fishcamp der Athabasken-Indianer. Es war mit dem Namen Elsie Pitka angeschrieben und machte keinen besonders einladenden Eindruck. In meiner momentanen Lage war es aber genau das Richtige. Am wärmenden Lagerfeuer konnte mir das einsetzende Schnee- und Hagelwetter nichts mehr anhaben und ich fühlte mich rundum glücklich und zufrieden. Beim Herumstöbern fand ich ein altes, vergilbtes National Geographic-Magazin mit einem Bericht über den Appalachian Trail. Und genau seit jenem Abend liess mich die Idee, diesen legendären Weg zu gehen, nicht mehr los ...

Von Atlanta an den Start des Trails

Unterdessen sind einige Jahre ins Land gezogen. Meine Partnerin Ursula und ich sitzen mit unseren vollgepackten Rucksäcken in Atlanta vor dem Mariott Hotel und warten auf Larry Banister, einen Taxifahrer, mit dem wir uns hier verabredet haben. Er soll uns zu den Amicalola Falls fahren, wo der Appalachian Trail beginnt. Es regnet in Strömen und Ursula hätte den Termin unseres Starts am liebsten auf besseres Wetter verschoben. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten: Der ganze Sommer blieb nass und kalt. Allein im Juli zählten wir 26 Tage mit Regen!

Wir warten und warten, aber Larry kommt nicht. Wahrscheinlich ist er wegen diesem Sauwetter nur verspätet, denken wir. Plötzlich fährt ein Taxi vor, der Fahrer steigt aus und sagt: «Ich bin hier, um euch abzuholen.» «Sind sie Larry Banister?», frage ich. «Nein, aber Larry schickt mich. Er hat leider keine Zeit, sel-ber zu kommen, es ist ihm etwas dazwischengekommen.» Ursula ist schon drauf und dran ihr Gepäck einzuladen. Ich halte sie aber zurück. Die ganze Geschichte stinkt mir zum Himmel, habe ich doch erst gestern Abend mit Larry telefoniert und auch schon einen fixen Preis ausgehandelt. «Wo sollen Sie uns denn hinbringen?», frage ich den Fahrer. «I drive you whereever you want», erklärt er. Aha, der Schlaumeier hat gesehen, dass wir vor dem Hotel warten und hofft nun, das grosse Geschäft zu machen. «Nun gut», sage ich, «hier ist Larrys Telefonnummer. Entweder Sie rufen ihn jetzt an oder wir gehen zusammen zum Manager dieses Hotels ...» Da beeilt er sich plötzlich, sich überschwänglich zu entschuldigen und ruft Larry auf eigene Kosten an, um sich zu erkundigen, wo er stecke. Es stellt sich heraus, dass Larry nur vergessen hat, seinen Wecker auf Sommerzeit umzustellen, und so ist er nach weiteren 20 Minuten des Wartens endlich zur Stelle.

Die 70-Meilen-Fahrt scheint kein Ende nehmen zu wollen, vor allem, weil das schlechte Wetter nur eine Höchstgeschwindigkeit von 20 Meilen pro Stunde zulässt. Kaum beim Visitor Center der Amicalola Falls angekommen, lässt der Regen nach und die Sonne drückt durch, was sich schlagartig auf unsere Stimmung auswirkt.

Die ersten Tage

Start an den Amicalola Falls
2. April 2000, 1. Tag, Amicalola Falls (GA)
Das wichtigste an Ausrüstung: • Regen-Poncho
• Rucksäcke Lowe Alpamayo / MacPack • Daunenschlafsäcke von Mammut
• Tunnelzelt von Lowland • Thermarest Ultralight - Matten
• Leki Wanderstöcke • Wassersäcke 2- und 4-Liter
• Kocher MSR Whisperlight / Kochgeschirr • Nikon FM2 mit 24-70mm/f4.0 und Diafilme
• Volllederschuhe von Raichle: Mt. Trekker und Trail Trekker Appalachian Trail Data Book 2024
• Kleidung nach dem Zwiebelprinzip • Proviant und viel Kleinkram mehr ...

Wir schreiben den 2. April 2000, es ist unser erster Tag auf dem Appalachian Trail. Wir registrieren uns in der Rangerstation und machen bei der Rubrik «Thru-Hiker» ein Kreuzchen. Die Federwaage vor dem Haus zeigt für meinen Rucksack 25 kg an, für denjenigen von Ursula 19 kg. In Anbetracht der scheinbar vielen Lebensmittel und der umfangreichen Kameraausrüstung finde ich dies nicht allzu schlecht.

Der eigentliche Start des AT befindet sich auf dem Springer Mountain. Mit einem Taxi kann man sich in die Nähe des Startpunktes bringen lassen. Wir ziehen es aber vor, auch den «Approach Trail», den Zugangsweg, der am bekannten Torbogen beginnt, zu Fuss hinter uns zu bringen. Das ergibt für uns zusätzliche 8.8 Meilen. Auf die restlichen 2167.1 Meilen gerechnet ist das aber nur noch ein Klacks.

Wir prüfen ein letztes Mal unser Gepäck und da der Nachmittag bereits ziemlich fortgeschritten ist, beschliessen wir, nur 1.2 Meilen bis zur Amicalola-Lodge zu wandern, wo wir einen Campingplatz vorfinden. Der Pfad ist sehr steil und felsig, da er die Klippe des Wasserfalls überwinden muss. Auf halber Strecke erreichen wir den Weg, der zu einer Aussichtsplattform führt. Ein Wasserfall von oben ist in der Regel nichts Spektakuläres, so auch in diesem Fall. Für uns ist es aber eine günstige Gelegenheit, eine Pause einzulegen, ohne zugeben zu müssen, wie erschöpft wir schon sind ...

Wir richten uns auf dem Camping ein, geniessen ein üppiges Mahl und eine letzte Dusche und verkriechen uns in unseren mollig warmen Schlafsäcken. Morgen früh geht es dann richtig los.

Ein ohrenbetäubender Knall reisst uns aus unseren Träumen, die Erde scheint zu beben, grelles Licht blendet die Augen – ein Gewitter, wie wir es noch nie erlebt haben, zieht über uns hinweg. Sintflutartig ergiessen sich die Wassermassen aus dem Himmel. Blitz und Donner in endlosen Kaskaden. Bald schon ist unser Zelt am Zusammenbrechen. Ich stürze mich, nur mit Unterhose bekleidet, hinaus und bin in Sekundenbruchteilen völlig durchnässt. Die Heringe sind aus dem sandigen Boden gespült worden und liegen nun in den grossen Pfützen. Ich bediene mich an der Feuerstelle und bringe das Zelt mittels einigen grossen Steinen wieder halbwegs zum Stehen. Das Unwetter scheint ewig zu dauern. Es hört erst gegen Morgen auf zu regnen. Nachdem das Zelt wieder sicher steht, schläft Ursula herrlich weiter. Ich dagegen tue praktisch kein Auge mehr zu. Das Positive am Ganzen: Das Zelt hat den ersten Härtetest bravourös überstanden. Im Innern blieb alles trocken.

Orientierung auf dem Trail

  • "White Blaze"
    Der gesamte Weg ist mit senkrechten weissen Markierungen (ca. 5cm x 15cm) an Bäumen und Felsen gekennzeichnet. Ein Verlaufen ist praktisch unmöglich. Der AT ist somit der längste markierte Fussweg der Welt
  • Appalachian Trail Data Book 2024
    ... ist das wichtigste Hilfsmittel zur Organisation. Es enthält von Meile zu Meile aufgelistet Informationen über Schutzhütten, Camping-Möglichkeiten, Trinkwasser (Flüsse, Quellen), Strassenanschlüsse, Ortschaften und ihre Infrastruktur, sowie Höhenangaben von Bergen und Tälern.
  • Appalachian Trail Thru-Hikers' Companion 2024
    ... ist das zweite Buch, welches häufig mitgenommen wird. Als Ergänzung zum "Data Book" bietet es ausführliche Informationen zu den Ortschaften und Städte, wie Ortspläne, Preislisten von Hotels/Motels/Hostels, empfehlenswerte Restaurants (vor allem "all you can eat"!!!), Sehenswürdigkeiten, Ausflüge in die nähere Umgebung usw.
  • Topographische Karten
    ... sind für den gesamten Trail erhältlich. Einzig von gewissem Nutzen sind die Höhenprofile. Sie sagen jedoch nichts über die Begehbarkeit des Terrains aus. Gerade relativ ebene Abschnitte sind oft von vielen kleinen Auf- und Abstiegen durchzogen, welche durch den Massstab der Karte nicht erfasst werden. Fazit: Karten sind teuer und überflüssiger Balast!

Frisch gestärkt mit Müsli und heisser Schokolade gehts um 10 Uhr morgens endlich weiter. Das Zelt wiegt wegen der Nässe mindestens ein Kilogramm mehr. Ich habe das Gefühl, jedes Gramm einzeln auf meinen Schultern zu spüren. Die Landschaft ist in feinen Nebel gehüllt und ab und zu nieselt es ein wenig. Der Wald ist noch kahl und grau, hinterlässt aber bei diesem Wetter einen geradezu mystischen Eindruck. Es macht Spass, endlich unterwegs zu sein. Dank unseren Regenponchos kann uns das Wetter nichts anhaben. Gemütlich legen wir die 6.1 Meilen bis zur Black Gap Shelter zurück. Aus dem Hüttenbuch erfahren wir, dass am heutigen Tag weitere 16 Hiker (Wanderer) vor uns auf dem Trail sind. Die nächste und übernächste Hütte wird wohl ziemlich überfüllt sein, denken wir. So kommt es, dass wir uns schon kurz nach 14 Uhr hier für die nächste Nacht einrichten.

Ausserdem wollen wir das Ganze langsam angehen. Wir sind ohne jegliches Training in dieses Abenteuer gestartet und erst zwei Tage vor dem Abflugtermin konnten wir die gesponserten Schuhe bei Raichle Boots in Kreuzlingen abholen. Also nur nichts übertreiben am Anfang. Auch Relaxen und Nichtstun kann schön sein. Vor allem werden es uns die müden Muskeln danken. Gegen Abend verschlechtert sich das Wetter. Die Wolken verfärben sich von grau zu grau-schwarz, bis hin zu einem hässlichen gelb-schwarz. Und bald darauf entlädt sich wieder ein heftiges Gewitter über unseren Köpfen. Doch diese Nacht in der sicheren Hütte schlafe ich herrlich. Ich bemerke nichts von Ursulas heroischem Kampf mit den frechen Mäusen, die unsere Lebensmittel stibitzen wollen. Mit Ausnahme eines angeknabberten Fladenbrotes kann Ursula weiteren Schaden abwenden. Mir wird jetzt sofort klar, wozu all die von der Decke hängenden Schnüre dienen, die mit nach unten offenen alten Konservendosen bestückt sind. Von oben kommend, können die Mäuse die darunter aufgehängten Essenssäcke nicht mehr erreichen.

Nach 1.5 Meilen erreichen wir den Springer Mountain. Wir sind nun den dritten Tag unterwegs und haben den offiziellen Startpunkt des AT erreicht. 2167.1 beschwerliche Meilen liegen noch vor uns. Auf dem Weg zum Gipfel setzt eisiger Wind und Schneetreiben ein. Rasch tragen wir uns mit klammen Fingern ins Gipfelbuch oder Logbook, wie es hier heisst, ein und verlassen diesen ungastlichen Ort.

Am Abend des sechsten Tages, nach genau 39.5 Meilen erreichen wir Neels Gap. Ich betrachte unsere Faltkarte des gesamten Trails. Darauf beträgt die Luftlinie vom Start zum Ziel ungefähr 105 Zentimeter und wir haben bis jetzt gerade Mal 15 Millimeter geschafft. Immerhin, bis Neels Gap hat gemäss der offiziellen Statistik bereits ein Drittel aller Gestarteten aufgegeben. Wir aber sind nach wie vor dabei.

Nach sechs Tagen endlich eine Dusche und ein feines Essen ... Auf dem Gipfel des Blood Mountain scherzt ein Hiker, der sich Grasshopper nennt, er bestelle unten schon Mal die Steaks und das Bier für uns. Der Gedanke daran verleiht uns Flügel und auf dem ganzen Weg nach unten läuft uns das Wasser im Mund zusammen. Doch nun dies: Neels Gap sieht verlassen aus, alles ist dunkel, nirgends ist ein Licht, nirgends eine Menschenseele zu sehen. Die Eingangstür zum kleinen Lebensmittelladen gibt nach, lässt sich öffnen. Auch drinnen ist kaum etwas auszumachen. Plötzlich löst sich ein Schatten aus dem Hintergrund, bringt «Licht» ins Dunkel, respektive Antworten auf unsere Fragen. Seit Tagen ist der Strom ausgefallen, deshalb gibts keine warme Dusche, kein leckeres Essen und auch das Hostel bleibt geschlossen. Die nahe gelegene Lodge ist komplett ausgebucht und in die 13 Meilen entfernte Stadt wollen wir nicht fahren. Die Aussicht, die Nacht im Zelt zu verbringen, lässt unsere Stimmung auf einen absoluten Tiefpunkt fallen, denn schon braut sich das nächste Gewitter zusammen. Immerhin, im Lebensmittelladen können wir noch einige Leckereien ergattern ...

Übernachtungsmöglichkeiten

  • Zelt
    Wildes Campieren ist fast überall erlaubt. Ausnahmen sind die Nationalpärke Great Smoky Mountains (Tennessee/North Carolina) und Shenandoah (Virginia), sowie die White Mountains (New Hampshire). Dort darf nur auf speziell gekennzeichneten Plätzen campiert werden.
  • Schutzhütten / Shelter
    Alle zehn bis fünfzehn Kilometer findet sich eine Schutzhütte (Shelter, oder weiter im Norden Lean-To genannt), welche zum Übernachten genutzt werden kann. Eine Shelter ist eine Konstruktion mit drei Wänden und einem Dach. Auf der erhöhten hölzernen Plattform rollt man seinen Schlafsack aus. Eine Hütte bietet Platz für sechs bis zehn Personen.
  • Hostels
    ... sind sehr günstige Herbergen, welche oft von ehemaligen Thruhikern betrieben werden. Sie kosten zwischen $10-$30 pro Nacht, häufig wird auch nur eine freiwillige Spende (donation) verlangt. Duschen und Waschmaschine stehen zur Verfügung. Übernachtet wird meist in einem sogenannten "Bunkhouse", einem Raum mit Kajütenbetten (meist ohne Matratzen, da ohnehin alle ihre eigenen Campingmatratzen und Schlafsäcke dabeihaben). Häufig werden auch Shuttlefahrten zum Einkaufen angeboten. In den Top-Hostels wird man zudem durchgefüttert!
  • Huts
    ... kommen nur in den White Mountains (New Hampshire) vor. Es sind Berghütten vergleichbar mit denjenigen der Alpenvereine in der Schweiz, in Deutschland und Österreich. Sie bieten Übernachtung mit Nachtessen und Frühstück für $98/Person für AMC-Members und $118/Person für Non-Members (Stand 2013). Als Thruhiker hat man aber die Möglichkeit des "Work for stay". Für die Mithilfe in Küche und Haus gibts Übernachtung und Verpflegung umsonst. Aber nur die ersten zwei, die sich melden, machen das Rennen. Aktuellste Infos finden sie direkt beim Appalachian Mountain Club.
  •  Hotels / Motels
    ... finden sich praktisch in allen Ortschaften, wobei die Preise von Süden nach Norden stetig zunehmen. Man muss ab $60 pro Zimmer und Nacht rechnen. Viele Vermieter gewähren auch einen Hiker-Rabatt. Geld sparen lässt sich, wenn man sich das Zimmer mit anderen Hikern teilt, auch wenn man dadurch unter Umständen auf dem Boden schlafen muss. Die teuersten Betten gibt es im Umkreis von 100 Meilen um Bear Mountain. Man befindet sich hier nämlich im Einzugsgebiet der Stadt New York.
Typische Shelter
Typische Shelter

Wir überstehen die Nacht problemlos, obwohl mir bei diesen heftigen Gewittern nie wohl zumute ist. Die grösste Gefahr im Wald ist, von einem umstürzenden Baum erschlagen zu werden. Mir geht die Geschichte durch den Kopf von dem Mann, dessen Bein unter einem riesigen Baumstamm eingeklemmt war. Mit dem Taschenmesser hat er den völlig zertrümmerten Unterschenkel abgetrennt und sich dann in die nächste Ortschaft gerettet ...

Gestern Abend haben wir alle unsere Lebensmittel absolut «bärensicher» zwischen zwei Bäumen aufgehängt, genau so, wie es in jedem Survival-Handbuch beschrieben wird. Allerdings zeigt sich heute, dass dieses System für solch stürmische Bedingungen völlig ungeeignet ist. Das Seil ist zerfetzt und unser Essen liegt auf dem Boden. Wenigstens sind die Mäuse bei diesem Sauwetter auch in ihren Löchern geblieben.

Wir packen unsere Sachen zusammen und marschieren ziemlich erwartungslos Richtung Hostel. Dort hat sich schon eine Reihe Hiker angesammelt, nämlich all jene Glücklichen, die gestern in der Lodge Unterschlupf gefunden haben. Ich glaube, nach dem gestrigen Tag ist unsere Frustrationsschwelle schon enorm gestiegen. Auf jeden Fall stören uns die Schwärmereien von ihren Fressorgien nicht gross. Viel mehr freuen wir uns, dass die Stromversorgung wieder funktioniert. Nach einer warmen Dusche, dem Erledigen der Wäsche und dem Verzehr einiger Kalorienbomben sind wir auch mental wieder bereit für den nächsten Abschnitt.

Die folgenden Tage sind kühl, oft auch mit Regenschauern durchzogen, die Nächte sind eisig. Wir ziehen es vor, im Zelt zu übernachten, da es darin viel wärmer ist als in den offenen Hütten. Unsere Schlafsäcke taugen bis etwa +5° Celsius. Mit Minustemperaturen haben wir jedoch nicht gerechnet. Vor allem Ursula hat Mühe mit der Kälte. Mit ihren steifgefrorenen Fingern ist sie ausserstande, beim Auf- und Abbau des Camps oder beim Kochen behilflich zu sein. Schon der Gedanke daran, am nächsten Morgen wieder eine Schicht Eis vom Schlafsack abklopfen zu müssen, erfüllt sie mit Ekel. Zum Glück ziehen die Temperaturen etwas an und wir geniessen auch einige sonnige Tage. Allerdings erleben wir selten 24 Stunden ohne Regen.

«Trail Magic»

In diese Anfangsphase fallen auch die ersten Trail Magic-Erlebnisse. Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist uns dabei die Begegnung mit dem Baptistenpfarrer Richard aus Knoxville. Zum ersten Mal begegnen wir ihm am Woody Gap (Mile 20), wo er uns mit Orangensaft und Cookies verwöhnt. Vier Tage später treffen wir ihn wieder am Unicoi Gap (Mile 50.7). Er lädt uns ins Städtchen Helen ein, wo wir bei Wendy’s mit Hamburger, Pommes frites, Coke und Eiscrème durchgefüttert werden. Er meint, er mache uns eine spezielle Freude, da Helen seiner Meinung nach genauso aussieht wie ein typisches, ländliches Dorf in der Schweiz. Viele Häuser sind im Stil von Schwarzwälder Kuckucksuhren erbaut. Mehr Kitsch geht nicht. Aber scheinbar wurde Helen dadurch zu einer echten Touristenattraktion. Auf jeden Fall, das Essen ist toll und während des Gesprächs kommen wir auch noch dem Geheimnis des Trail Magic auf die Spur.

«Trail Magic»

... ist ein Ausdruck der Verbundenheit der Bevölkerung mit ihrem Trail. Viele sind ihn selber gewandert. Sie wissen um die Anforderungen, welche ein Thru-Hike an Körper und Psyche stellt. Sie wollen etwas von dem, was sie selbst auf dem Trail erhalten haben, an uns heutige Hiker zurückgeben. Trail Angels oder Friends of the Trail nennt man die Menschen, welche uns Hikern das Leben so sehr erleichtern. Oft findet man einfach mitten auf dem Weg eine Kühlbox mit Getränken, woraus man sich bedienen kann. Ab und zu werden Cookouts organisiert, das sind Grillpartys mit Hamburgern und Hot Dogs bis zum Abwinken. Oft nehmen Tageswanderer Extraessen mit, das sie verteilen oder einfach in einer Schutzhütte zurücklassen. Nicht zu vergessen sind natürlich all die Mitfahrgelegenheiten, die wir zum Einkaufen benötigen. Die Ortschaften sind meist fünf bis zehn Meilen vom Trail entfernt. Nur selten führt die Route mitten durchs Dorf.

Nach dem Essen bringt uns Richard zum Trail zurück. Vollgefressen wie wir sind, kommen wir kaum noch den Berg hoch. Ausserdem sind wir derart salzhaltige Mahlzeiten nicht mehr gewohnt, so dass wir beinahe verdursten. Also schlagen wir schon nach wenigen Meilen an einer schönen Stelle Namens Cheese Factory unser Lager auf.

Am nächsten Morgen stehen wir früh auf und sind um 9:30 Uhr bereits unterwegs. Es ist unglaublich. Mühelos erklimmen wir die Berge. Die geballte Energie von Hamburgern und Pommes frites steckt in unseren Beinen. Ich glaube, gestern haben wir, zum ersten Mal seit neun Tagen, erstmals wieder genügend Kalorien zu uns genommen. Wir schaffen die 12.5 Meilen bis Dicks Creek Gap in Rekordzeit. Beim Abstieg Richtung Strasse entdecken wir von weitem eine orange Kühlbox. Und was bedeutet das wohl? Genau, Richard ist wieder da. Mehr als die Kühlbox können wir jedoch nicht ausmachen. Hat Richard wieder einige Hiker nach Helen eingeladen? Wir machen uns erst einmal über die Kühlbox her und geniessen Coke und Cookies. Als Richard immer noch nicht erscheint, beschliessen wir, per Anhalter in die nächste Ortschaft zum Einkaufen zu fahren. Wir stehen noch keine zwei Minuten am Strassenrand, als ein uns wohlbekanntes Gefährt anhält. «Hi Richard, how are you doing?» Uns hat er wirklich nicht schon wieder erwartet. Rasch sind die Rucksäcke verladen und die Fahrt geht los – 11 Meilen nach Hiawassee, wo wir für die Nacht in einem Motel Unterschlupf finden.

Dieser Bericht endet hier - mehr gibts im Buch!

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